Der rauchende Colt in Wuhan: Das deutsch-chinesische Labor und die HIV-Inserts

Theorien über einen Laborursprung von SARS-CoV-2 haben sich weitgehend auf das Vorhandensein der berühmten Furin-Spaltstelle im Genom konzentriert. Weniger Aufmerksamkeit wurde anderen Anomalien geschenkt, insbesondere dem Vorhandensein der sogenannten HIV-Inserts, die das indische Forscherteam Pradhan et al. Ende Januar 2020 erstmals aufwies und schnell als unhaltbare Verschwörungstheorie abtat. Als also eine Gruppe von Wissenschaftlern aus der Anglosphäre um Kristian Andersen fast genau zur gleichen Zeit mit ihrer Befürchtung, dass das Virus manipuliert worden sei, zu Anthony Fauci kam, konzentrierte sie sich auf die Furinspaltstelle und gab sich große Mühe, sich von Pradhan et al. und den HIV-Inserts zu distanzieren.
Aber liegt das daran, dass sie sie nicht als anomal ansahen, oder vielmehr, weil sie besorgt waren, dass die Auswirkungen der Anomalie zu schockierend waren, um weiter verfolgt zu werden? Der Inhalt ihrer FOIA-E-Mails und Slack-Nachrichten macht deutlich, dass es sich um Letzteres handelt. Auch sie sahen die Anomalie, aber sie wollten nicht darüber sprechen, denn, wie Edward Holmes es ausdrückte, sowohl in einer E-Mail vom 4. Februar 2020 an Jeremy Farrar als auch in einer Slack-Gruppennachricht am selben Tag, "wird uns das wie Verrückte aussehen lassen". (Holmes schrieb an seine Kollegen und bezog sich dabei auf die erste Skizze ihrer berüchtigten "Proximal Origins"-Studie: "Gute Idee, all die anderen Anomalien nicht zu erwähnen, da uns das wie Verrückte aussehen lassen wird".)
Wie die Slack-Nachrichten ebenfalls überdeutlich und manchmal peinlich deutlich machen, waren Fragen der Zweckmäßigkeit und sogar Karriereüberlegungen nie weit von den Köpfen Andersens und seiner Kollegen entfernt.

Aber einer, der zu alt war, um sich um solche Dinge zu kümmern, war der verstorbene französische Virologe Luc Montagnier: kein Geringerer als der Mann, dem der Entdecker von HIV oder des AIDS-Virus zugeschrieben wird. Montagnier übernahm die Ergebnisse von Pradhan et al. sehr ernsthaft, reproduzierte sie unabhängig mit Hilfe des Biomathematikers Jean-Claude Perez und kam zu dem Schluss, dass SAR-CoV-2 in einem Labor erzeugt worden sein muss. Er würde in der Tat weithin als "Verrückter" für seine Probleme behandelt werden – und das, obwohl der vermeintliche "Verrückte" kaum 10 Jahre zuvor den Nobelpreis für Medizin für seine Entdeckung von HIV erhalten hatte.
In einem Interview vom 16. April 2020 mit der französischen Gesundheitsnachrichtenseite Pourquoi Docteur? (Warum Doktor?) wies Montagnier die Idee, dass SARS-CoV-2 aus einem Nassmarkt hervorgegangen sei, als "eine nette Geschichte" zurück und bestand darauf, dass angesichts der HIV-Beilagen das wahrscheinlichere Szenario sei, dass es in dem Bemühen entwickelt worden sei, einen HIV-Impfstoff mit einem Coronavirus als Vektor herzustellen. (Obwohl der begleitende Artikel immer noch online ist, ist das Audio von Luc Montagniers Interview mit Pourquoi Docteur? nicht mehr auf der Website oder der Podcast-Plattform verfügbar. Glücklicherweise ist eine Aufzeichnung davon auf Facebook erhalten geblieben.)

Schließlich ist bekannt, dass das Wuhan Institute of Virology (WIV) Experimente mit von Fledermäusen übertragenen Coronaviren durchgeführt hat. Genau aus diesem Grund war Kristian Andersen davon überzeugt, dass ein Entweichen des Virus im Labor weitaus wahrscheinlicher ist als ein natürlicher Ursprung. "Ich denke, die Hauptsache, die ich immer noch im Kopf habe", schrieb er in einer Slack-Nachricht, "ist, dass die Laborflucht-Version davon so verdammt wahrscheinlich passiert ist, weil sie diese Art von Arbeit bereits durchgeführt haben und die molekularen Daten vollständig mit diesem Szenario übereinstimmen."
Andersen schrieb dies an seine Kollegen, kurz bevor er an der berühmten Telefonkonferenz vom 1. Februar 2020 teilnahm, bei der der deutsche Coronavirus-Spezialist Christian Drosten und der niederländische Gain-of-Function-Forscher Ron Fouchier sie dafür scharf kritisiert haben, dass sie die Hypothese des "Laborlecks" hegten.

Aber sicherlich hat niemand in Wuhan versucht, einen HIV-Impfstoff zu entwickeln, und das ist vermutlich der Grund, warum Andersen und seine Kollegen Montagniers Theorie für "verdammt unwahrscheinlich" hielten und sich wohl dabei fühlten, in ihren Gesprächen lahme Versuche zu unternehmen, den Nobelpreisträger zu dissen ("Nobelpreiskrankheit ist eine bekannte Sache" ).

Tatsache ist jedoch, dass jemand in Wuhan versucht hat, einen HIV-Impfstoff herzustellen.

Denn genau das war das Ziel des langjährigen deutsch-chinesischen kooperativen Virologieprojekts, über das ich hier, hier und hier geschrieben habe und aus dem ein vollwertiges deutsch-chinesisches Virologie-Gemeinschaftslabor direkt in Wuhan entstanden ist. Wie ich gezeigt habe, befindet sich das gemeinsame deutsch-chinesische Labor am Union Hospital am linken Ufer des Jangtsekiang nicht nur in Wuhan, sondern auch – anders als das Wuhan Institute of Virology – direkt im Gebiet des ersten Ausbruchs von COVID-19-Fällen in der Stadt.

Darüber hinaus ist das Wuhan Institute of Virology selbst offizieller Partner des deutsch-chinesischen Virologie-Netzwerks – und wie gleich zu sehen sein wird, sind wichtige Mitglieder des Netzwerks, die Experimente durchführten, die die Entwicklung eines HIV-Impfstoffs erleichtern sollten, am WIV angesiedelt.

Als Luc Montagnier zum ersten Mal über die HIV-Beilagen stolperte, konnte er das alles nicht wissen. Alles, was er noch tun musste, waren die molekularen Daten. Aber es ist wahr.

Der öffentlich geförderte Sonderforschungsbereich "Transregional" (TRR60), aus dem das deutsch-chinesische Gemeinschaftslabor hervorgegangen ist, lautet "Wechselseitige Interaktion chronischer Viren mit Zellen des Immunsystems: von der Grundlagenforschung über die Immuntherapie bis hin zur Impfung".

Die chronischen Viren, gegen die ein Impfstoff gesucht wurde, waren Hepatitis-C und HIV. Ein Leitbild in englischer Sprache finden Sie hier. Die zentrale Bedeutung der Entwicklung eines "sicheren und wirksamen" HIV-Impfstoffs liegt auf der Hand. Ja, die mittlerweile berüchtigte Formel "sicher und wirksam" steht im Leitbild (wie unten zu sehen ist).
Wie aus der Beschreibung hervorgeht, widmete sich das Teilprojekt B6 von TRR60 unter der Leitung der Professoren Rongge Yang und Binlian Sun vom Wuhan Institute of Virology der Untersuchung von "gentechnisch veränderten HIV-Glykosylierungsvarianten gp120 V1/V2" mit dem Ziel, die "Entwicklung von HIV-Impfstoffen" zu erleichtern.
Nun, das ist sehr interessant, da drei der vier von Pradhan et al. identifizierten Inserts genau "kurzen Segmenten von Aminosäureresten in HIV-1 gp120" entsprechen: d.h. dem HIV-Hüllprotein "Glykoprotein 120". Genauer gesagt waren die Reste "Teil der V4-, V5- bzw. V1-Domänen" (Hervorhebung hinzugefügt).

Wie "Seven of Nine MD" feststellte, als sie auf diese Passage in Pradhan et al. aufmerksam gemacht wurde: "Das sieht nicht gut aus für Rongge Yang und Ulf Dittmer". (Wie hier bereits erwähnt, hat der pseudonyme X-Account "Seven of Nine MD" viele der Themen der deutschen Ärztin und Virologin Johanna Deinert aufgegriffen: eine langjährige Verfechterin der "Lab Leak"-Hypothese, die unter dem alten Regime von Twitter verbannt wurde und deren @DeinertDoc Account unter dem neuen Regime nie wiederhergestellt wurde.)

Professor Ulf Dittmer vom Universitätsklinikum Essen war Koordinator des "transregionalen" Forschungszentrums und ist Co-Direktor des deutsch-chinesischen Labors am Union Hospital in Wuhan. (Seine Verbindungen zu Christian Drosten habe ich hier besprochen.)

Dittmer ist selbst Co-Autor einer Arbeit aus dem Jahr 2016 mit nicht weniger als fünf Mitgliedern des Wuhan Institute of Virology, darunter Rongge Yang und Binlian Sun, über niemand Geringeren als die V1-Region des HIV-Hüllproteins gp120.
Das Papier bezeichnet die Region als "unverzichtbar für... Die Autoren argumentieren, dass ihre gemeinsame Forschung "die Entwicklung neuartiger HIV-Impfstoffe erleichtern könnte".

Dittmer ist mit Rongge Yang auf einem Foto zu sehen, das 2015 am Universitätsklinikum Essen aufgenommen wurde. Ein weiterer prominenter Gast aus China (nach unten scrollen) ist kein Geringerer als George F. Gao, der bald Direktor der chinesischen CDC werden sollte.
Es gab natürlich viel Aufregung über einen angeblichen "rauchenden Colt" in Chapel Hill, North Carolina, der die Laborherkunft von SARS-CoV-2 beweisen soll. Es macht nichts, dass Chapel Hill etwa 7.000 Meilen von Wuhan entfernt ist. Aber dieser "rauchende Colt" – einer mit deutschen, nicht mit amerikanischen Fingerabdrücken – ist genau in Wuhan. Es ist nicht notwendig, dass das Virus vor seiner Flucht irgendwie in die Stadt in China gelangt ist. Die HIV-Arbeit wurde direkt am Wuhan Institute of Virology mit seinem berühmten Repository für Coronaviren durchgeführt.